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03-2018

 

Gibt es eigentlich so etwas wie „psychotische“ Kunst?

 

 

GUTER RAT

Hast du Verstand und ein Herz, so zeige nur eines von beiden,

Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.

(Friedrich Hölderlin, 1770 – 1843, in Gedichte 1796 – 1799)

 

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Seelische Erkrankungen werden nicht immer gleich offensichtlich. (Wenn sich jemand das Bein gebrochen hat, wird dies jedem deutlich.) Durch Verhalten und Kommunikation können Indizien offenbar werden, die auf Abweichungen von einer „Normalität“ hindeuten. (Jede Psychose setzt auch kreative Kräfte frei!)

 

Abweichungen vom normalen Verhalten und den normalen Kommunikationsschemata können eine Andersartigkeit von einer normalen Konstellation oder gar eine Erkrankung der Psyche andeuten. (Was würde man als Seele, was als Geist bezeichnen?) Nicht gemeint sind hier extreme Charaktereigenschaften, unterschiedliche Intelligenzen und menschliche Erfahrungswerte, von der Norm abweichende Begabungen im positiven Sinne.

 

Intelligenz bei Menschen kann, durch Tests, eruiert werden. Für die Intelligenz von Lebewesen (speziell von Säugetieren) ist nicht die Masse des Gehirns, sondern vielmehr die strukturelle Organisation, welche die unterschiedlichen Lebewesen im Lauf der Evolution entwickelt haben, ausschlaggebend. (Rabenvögel und Delphine gelten nach menschlichem Ermessen als sehr intelligente Lebewesen im Tierreich.)

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Primaten und letztendlich der Mensch in seiner heutigen Entwicklungsstufe entwickelten im Laufe der Evolution die Fähigkeit, ihre Extremitäten, Gliedmaßen, als Werkzeug einzusetzen. Allein sprachfähig und -begabt ist nur der Mensch, was ein ausgeprägt hierarchisch organisiertes und komplex vernetztes System des Gehirns voraussetzt. (Soll aber nicht bedeuten, dass Tiere – oder sogar auch Pflanzen – nicht miteinander kommunizieren.)

 

Was das zentrale Nervensystem (und das Gehirn) betrifft, sind diese (psychischen) Erkrankungen ausschließlich die Domäne der Medizin, respektive der Psychiatrie. Seelische Erkrankungen im seichteren Ausmaß, aber nicht minder persönlichkeitsbeeinflussend und für die Betroffenen leidvoll, sind ein Fall für die Psychologie und der Psychoanalyse. Wobei Neurosen oder Zwangshandlungen (-neurosen), Persönlichkeitsstörungen und Psychopathien genauso die Hölle auf Erden bedeuten können – für die Person selbst und für die Umwelt, die Mitmenschen und die Gesellschaft. (Einige Neurosen können schlichtweg durch Konditionierung heranwachsen.)

 

Psychosen sind die Domäne der Psychiatrie; Neurosen, Zwangshandlungen und Persönlichkeitsstörungen die der Psychologie. Die Frage nach dem „Warum?“ und „Wozu?“ bedingt sich gegenseitig. „Sowohl – Als auch“, hat durchaus seine Berechtigung. (Exogen und endogen – heute nicht mehr gebräuchlich – bedingen sich offensichtlich gegenseitig.)

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(Der Schizophrene, sofern man dies verallgemeinern könnte, scheint ein schwaches, labiles und/oder nicht ausgeprägtes Ich zu zeigen, wie ein Blatt im Wind. Dieses schwach ausgeprägte Ich scheint den Impulsen des Es und dem Einfluss des Überichs – Gewissen – nicht integrierend Stand zu halten. Leichte Beeinflussbarkeit, leichtsinniges und unreflektiertes Handeln, Gleichgültigkeit, bis zu Desinteressen in allen Belangen, bis zu schwachen Willensbildungen prägen das Bild schizophrener Erscheinung und Verhaltens.

Versteht man es, den Schizophrenen zu „erreichen“ (durch Spiegelung, durch empathisches Verhalten usw.), so dass er sich verstanden, bestätigt, anerkannt und akzeptiert fühlt,  spielt er plötzlich „normal.“)

 

Kurt Schneider (deutscher Psychiater, 1887 – 1967 – die Kerngedanken seiner Psychoseforschung sind heute wesentlich im DSM verankert) erwähnte mehrmals in seinen Lehrschriften, dass man paradoxerweise einerseits mit der Diagnose „Psychose“ äußerst vorsichtig umgehen sollte, andererseits legt er aber dar, dass bereits wenige Symptome 1. und/oder 2. Ranges genügen, um eine psychotischer Erkrankung in Erwägung zu ziehen.

 

Was Neurosen betrifft, wird man die Kinderstube bis zum 5. Lebensjahr, die weitere Entwicklung der Kindheit, Jugendzeit (stable primary group), Adoleszenz bis zum frühen und reifen Erwachsenenalter analysieren. Es geht vorwiegend um Erfahrungen (positiver wie negativer Natur, welche bis zu Traumata führen können) sowie die Sozialisation.  Mit 30 oder 40 Jahren dürfte die Persönlichkeit des Individuums gefestigt sein. (Deshalb sind Leidende an seelischen Störungen neurotischer Natur jenseits dieses Alters um so schwerer zu therapieren.)

 

Bei psychotischen Erkrankungen spielt vorwiegend ein hereditäres Moment eine Rolle. (Eine Psychose kann aber auch aus heiterem Himmel kommen, ohne Vorgeschichte, aus gesunder Biologie, ohne jeglicher „Warnhinweise“, oft aber durch – schwerwiegende – Ereignisse – z.B. ein traumatisches Erlebnis oder Ereignis – herbeigeführt, oder vielmehr ausgelöst werden.)

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Wenn man die neurophysiologischen Zusammenhänge des zentralen Nervensystems (und des Gehirns) versteht, wird offensichtlich, dass eine (schwere) Psychose auch eine Geisteskrankheit bedeuten kann.

 

Es hängt zusammen: Schizophrenie, (schiz – phrenos, alt-gr.)  psychotische Depression (dieser Begriff war noch bis vor 20 Jahren gebräuchlich, heute spricht man von Major Depression), manisch-depressive Psychose (der heutige Begriff ist mir jetzt nicht geläufig, wahrscheinlich bipolare Störung) hängen mit den Schwerpunkten der neuronalen Dysfunktion im Gehirn zusammen. Die (Nerven-)Systeme (dopaminerg, adrenerg, noradrenerg usw.) innervieren, gehen ineinander über.

 

Diesbezüglich haben die Forschungen der Neurophysiologie mit den Erkenntnissen der biochemischen Reaktionen, und deren Störungen an den Synapsen von Nervenzellen einen Meilenstein in der Erforschung und Ergründung der Ursachen von Psychosen gemacht.

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Wahnbildungen, Verhaltensstörungen, Kommunikationsstörungen usw. sind Symptome (einer Psychose). Die Ursache ist eine Dysfunktion in der neuronalen Kommunikation des zentralen Nervensystems, respektive des Gehirns (in den entsprechenden Arealen). Grob holzschnittartig vereinfachend könnte man bei einer psychotischen Erkrankung von einer Stoffwechselstörung sprechen. (Laienhaft formuliert.)

 

Psychosen sind (fast) (noch) nicht heilbar (ebenso wie Pädophilie), aber können medikamentös gemildert und gelindert werden. Gerade die Neuroleptika der 3. Generation wirken effektiv und haben wenige Nebenwirkungen. (Wobei die Wirkung der unterschiedlichen Medikamente von Person zu Person nicht übertragbar ist. Was bei Patient A wirkt, heißt noch lange nicht, dass dieses genauso bei Patient B wirkt.)

 

Nicht nachvollziehbar scheint mir der exorbitant hohe Handelspreis dieser speziellen „Tabletten“. (Da steckt doch kein Gold drin, ist doch nur pure Chemie! – Die Chemieriesen rechtfertigen dies alles mit den angeblich hohen Kosten der Forschung, Entwicklung, Vorbereitung bis zur Marktreife, Kosten von Studien, der Testphase, Screening usw.)

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Die Paradoxie der psychotischen Erkrankung ist (zu Anfang) die mangelnde Krankheitseinsicht. „Anderssein“ als Attribut gilt aber auch für Neurosen (und Psychopathien und Persönlichkeitsstörungen) und Psychosen gleichermaßen. (Auch schwere psychische Beeinträchtigungen, wie eine Psychose, setzen kreative Kräfte frei!) Dabei tappt der oder die Betroffene zunächst im Dunkeln: ein gewisser Leidensdruck ist zwar vorhanden, aber es fehlt jedwede Erklärung dafür. (Rote Zahlen deuten aber nicht immer auf eine Krankheit hin.)

 

Normalerweise verflacht die Heftigkeit und das Ausmaß der psychotischen Erkrankung im Laufe des Lebensalters. Eine medikamentös behandelte Psychose hat ein milderes, unauffälligeres Ausmaß jenseits des 5. Dezenniums (Residualzustand) als etwa eine unbehandelte Psychose in der Adoleszenz oder im 2. oder 3. Dezennium.

 

Auch bei einer psychotischen Erkrankung (nicht bei einer schweren) spielen sich psychische Mechanismen ab, wie es sich die Psychologie in ihren vielfältigen Richtungen zu Nutze macht.

 

Bei akuter (schwerer) Psychose finden keine Übertragungen statt. (Der Sinn des gesprochenen und geschriebenen Wortes wird nicht – mehr — erkannt.) Bei nachlassendem Zustand, aber noch in Psychose, können Übertragungen stattfinden.

Beispiel: Ein Schizophrener in einem solchen Zustand mag etwa beim Anschauen eines Fernsehfilmes plötzlich einen Vorschlaghammer zur Hand nehmen und auf das Fernsehgerät einschlagen und es zerstören. Jeder Außenstehende kann keine Zusammenhänge erkennen, das Urteil lautet: er/sie ist wahnsinnig/verrückt geworden und könnte somit womöglich für die Allgemeinheit eine Gefahr darstellen.

Im eigentlichen Wirken des psychotischen Vorganges finden zwischen dem Psychotiker und dem rezipierten Film (imaginierte „Realität“ oder Berichterstattung realer Ereignisse), um am Beispiel zu bleiben (Spielfilm, Krimi, Nachrichtensendung …) Übertragungen statt, dessen er nicht (mehr) Herr seiner selbst ist. Er/sie (der Psychotiker) bezieht alles auf sich, er überträgt die Sinnlogik der gesehenen und gehörten Abläufe/Aktionen auf sich selbst. Er glaubt, er ist gemeint, er glaubt im Mittelpunkt des Geschehens/der übertragenen Aussagen und Sinnlogik zu stehen. (Psychotischer Selbstbezug.)

Die Psyche als poröse Wandung ist offensichtlich gestört. Distanz zu Übertragungen, die Fähigkeit zur Objektivierung (wir sind aber Subjekte!), scharfsinniger Intellekt, Übertragung als Mittel und Werkzeug der Psychologie, zeugen von gesunder psychischer (und somit geistiger) Konstellation. Geistige Potenz offenbart sich u.a. an geordneten, kausalen Gedankenzusammenhängen. (Man kann aber hieraus nicht ableiten oder folgern: Die Art und Ausprägung der Kommunikation bestimmt den Erfolg, die Höhe des Einkommens – wie manche „Erfolgschoaches“ proklamieren mögen.)

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Der Schizophrene ist sich (während seiner Erkrankung) seiner abweichenden und sonderbaren Kommunikation nicht bewusst (oder nur bedingt – eine gefühlsmäßige Ebene ist stets vorhanden.) Er konstruiert, sich dessen nicht bewusst, in seiner kommunikativen Absicht eine Ellipse (Ellipsen).

 

(Paranoid) Schizophrene ziehen Fäden zwischen unterschiedlichen, akausalen Ereignissen, Erinnerungen, Einbildungen, Gedächtnissplittern, Erfahrungen, Ereignissen  und Erlebnissen, vermeintlichen Zufällen, mit sich selbst oder versuchen diese kausal zu verknüpfen. Der Rapport des Paranoiden offenbart sich im Zweifel von Ereignissen nach der Ergründung (auf) von Zufall oder Kalkül.

 

In den 70-er und 80-er Jahren kam in der Psychiatrie eine Bewegung auf, die das abweichende Verhalten bei Psychotikern nicht nur als gegeben, sondern als Maßstab, als Ideal, im Gegensatz zu normativem Verhalten ansah. Besonders der Engländer Ronald D. Laing war federführend in der Antipsychiatrie-Bewegung. (Ronald D. Laing: Man sehe eine Formation von 3 Düsenjets am Himmel. Plötzlich verlässt einer die Formation, verlässt die Gruppe. Es liegt nahe, dass er die Formation verlassen hat, einen anderen Weg eingeschlagen hat, sich auf der falschen Fluglinie befindet. Aber, es könnte auch so sein: Die beiden anderen sind abgebogen, verfolgen den falschen Kurs, der einzelne Jet ist auf dem richtigen Kurs.)(David Cooper und Gregory Bateson – Schizophrenie und Familie – sind weitere wichtige Vertreter dieser Auffassung.) (D. Cooper: Paranoid ist nicht der Verfolgte, aber die Verfolger!) Aus heutiger Sicht konnten sich diese Thesen im gestörten psychologischen Ablauf und Verhalten der Psychose in der Psychoseforschung nicht durchsetzen. (Etwa Batesons Theorie des double-bind für die Entstehung von Schizophrenien im familiären Umfeld.)

 

Schizophrenie: Laing sprach von einer „Etikettierung“ (seitens) der Gesellschaft, — vielleicht sind Schizophrene – jene 1% der Bevölkerung – in gesunden Phasen dem Leben näher als alle anderen, weil die 5 Sinne, und nicht selten der Intellekt, besonders ausgeprägt sind und auch intensiver erlebt werden.

 

Es wird wahrscheinlich so viele Psychosen (Schizophrenien) geben wie es Psychotiker gibt. Es sind „hoffnungslose“ Fälle bekannt, bei denen eine Geisteskrankheit offensichtlich ist, die eine lebenslange Internierung erfordern (bis ins letzte Jahrhundert wurden psychiatrische Kliniken als „Besserungsanstalten“ deklariert), bis zu leichteren Verläufen, bei denen die Betroffenen, auch dank medikamentöser Behandlung, den Alltag ganz normal bewältigen und berufstätig sein können. (Die Statistiken über psychische Erkrankungen lässt nicht erahnen, wie viele nicht deklarierte Fälle da draußen herumlaufen – die Dunkelziffer dürfte hoch sein! – Paradoxie der psychischen Erkrankung.)

 

Psychose muss nicht ein permanenter Zustand sein. Oft treten psychotische Erkrankungen in Schüben auf. Es gibt Phasen der Erkrankung und des Gestörtseins sowie lichte Tage bei voller Geistesleistung. Deshalb wirken derart betroffene Personen auf Mitmenschen wie eine „gespaltene“ Persönlichkeit, aus Erfahrungen mit dieser Person wie zwei verschiedene Persönlichkeiten in einer. (Nur ein Aspekt von vielen über das vormals bezeichnete „Spaltungsirresein“ wie es der Psychiater Eugen Bleuler ins Leben gerufen hat – Beispiel gestörte Affekte.)

 

(Anmerkung: Die rudimentär und marginal angerissenen Erkenntnisse, Tatsachen und Feststellungen aus der Forschung der Psychiatrie, vor allem der Neurophysiologie, sind veraltet, und auf dem Wissenstand – als Betroffener – vor 30 Jahren. Es kann sein, und dies ist sehr wahrscheinlich, dass geschilderte Sichtweisen aus heutiger Perspektive der Forschung überholt und völlig falsch eingeschätzt oder widergegeben worden sind. Es sollte vielmehr ein Versuch sein, die Problematik aus der Sicht eines Laien zu veranschaulichen.)

 

Was normal und anormal ist, definiert im Wesentlichen (u.a.) die jeweilige Gesellschaft (siehe hierzu George Devereux): Wenn man bei uns nackt auf die Straße geht, wird man mit aller Wahrscheinlichkeit in die Psychiatrie eingewiesen, in den meisten Haftanstalten Nordamerikas ist der Besitz von Pornografie verboten – bei Verstoß droht Haftverlängerung, in Spanien und Portugal werden inzestuöse Beziehungen geduldet, in Russland ist Schizophrenie verboten, Italien hat die Psychiatrie ganz abgeschafft…

 

 

FALSCHE POLULÄRITÄT

O der Menschenkenner! Er stellt sich kindisch mit Kindern;

Aber der Baum und das Kind suchet, was über ihm ist.

(Friedrich Hölderlin, in Gedichte 1796 – 1799)

 

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Der österreichische Psychiater Leo Navratil (1921 – 2006) hatte ein Augenmerk auf die Bildnereien von Patienten (seiner Patienten) psychiatrischer Einrichtungen. Der Übergang von psychischer Gestörtheit, psychischer Erkrankung und Geisteskrankheit ist graduell ansteigend, aber fließend.

 

Aus der Subsummierung „zustandsgebundener Kunst“ wurde später der Begriff „Art Brut“ und „Outsider Art“. Navratil integrierte die zeichnerische und malerische Ausdrucksform (Gestalttherapie) in die Therapie seiner Patienten. Walter Morgenthaler in der Schweiz (Bern, 1921), Hans Prinzhorn in Deutschland (Heidelberg, 1922) und Marcel Réja in Frankreich (Paris, 1907) verfeinerten und spezialisierten sich in der Erforschung der Bildnereien von psychisch Kranken (und Geisteskranken). Es entstanden Sammlungen (Prinzhorn Sammlung), Archive, Dokumentationen und Veröffentlichungen, die primär wissenschaftlichen Zwecken dienten, aber letztendlich diese nicht etablierte Richtung in der Kunst (Art Brut) entstehen ließ, bekannt machte und letztlich salonfähig machte.

 

Leo Navratil wagte erstmals den Schritt mit Werken psychisch Kranker (seiner) an die Öffentlichkeit 1970 mit einer Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan in Wien. Gugging, die Wirkstätte Navratils, wurde in den 60-er und 70-er Jahren schon fast eine Art Wallfahrtsort für Künstler.

 

Mit der Veröffentlichung von Namen der Künstler, etwa die Maler Johann Hauser, Oswald Tschirtner und August Walla sowie der Dichter Ernst Herbeck wurde ein Schritt hin zur Etablierung und Verankerung dieser Kunst – Art Brut – im Konglomerat des Kunstpluralismus, wie er heute existiert,  getan.

 

1981 gründete Navratil auf dem Gelände des Krankenhauses in Gugging das Zentrum für Kunst- und Psychotherapie. 1994 wurde im selben Gebäude eine Galerie gegründet, welche 1997 in ein Nachbargebäude übersiedelte wo das heutige Art / Brut Center Gugging entstand. Daran angegliedert hat sich ein offenes Atelier (2001), eine Privatstiftung (2003) und ein Museum (2006).

 

 

Gott ist den Menschen die Liebe.

(Friedrich Hölderlin)

 

Der deutsche Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886 – 1933, Promotion der Medizin 1919) widmete den Großteil seines Interesses in seinem Metier den Bildnissen psychisch Kranker (seiner Patienten). Diese archivierte und sammelte er zu einer nach ihm benannten „Prinzhorn-Sammlung“. (Sein Weltbild gründete im Wesentlichen auf der Philosophie von Ludwig Klages.)

 

1919 begann er eine Assistenz in Heidelberg und ihm wurde dort von dem Psychiater Emil Kraepelin eine Sammlung von Bildwerken psychisch Kranker anvertraut. Dies dürfte wohl die Initialzündung für sein Bestreben gewesen sein, fortan derartige Werke zu sammeln.

 

1921 verließ Prinzhorn die Universitätsklinik Heidelberg, seine Sammlung umfasste derzeit schon mehr als 5000 Gemälde von 450 Patienten („Fälle“). 1922 schließlich publizierte Prinzhorn sein Werk dieses Sammeleifers, seine „Bildnerei der Geisteskranken“ als Buch.

 

Während seine medizinischen Fachkollegen eher reserviert auf diese Dokumentation reagierten, gewann er von Kunstliebhabern, Kunstsammlern und Experten und Psychologen um so mehr Aufmerksamkeit. Er eröffnete dadurch nicht nur den Zugang zu einem allgemeinen breiten Publikum, sondern sorgte für das Experteninteresse eine Möglichkeit, die „Bildnereien der Geisteskranken“ zu analysieren und zu erforschen. (Meist fielen Begriffe wie „Expressivität“ und man versuchte Gestaltungsmerkmale derartiger bildnerischen Äußerungen zu eruieren.)

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Die weiteren Stationen Prinzhorns als Nervenarzt nach Heidelberg waren Zürich, Dresden und Wiesbaden. Ab 1925 ließ er sich in Frankfurt am Main nieder und eröffnete dort als Arzt eine psychotherapeutische Praxis. Er verfasste auch weitere Bücher, die aber nicht an die Popularität seines Erstlingswerkes herankamen.

 

Sein in seinen Augen berufliches Scheitern und persönliche, familiäre Probleme (drei gescheiterte Ehen) veranlassten ihn zu einer Tante nach München zu ziehen. Er machte sich zu dieser Zeit, gegen Ende seines Lebens, schriftstellerisch für den Faschismus Mussolinis und den Nationalsozialismus stark. Prinzhorn verstarb 1933 (an Typhus) in München. (Als treue Weggefährten zählen Ludwig Klages, Gerhart Hauptmann und Thomas Mann.)

 

Nach Prinzhorns Tod 1933 wurden die Zeichnungen, Gemälde, bildhauerischen Werke seiner Sammlung auf dem Dachboden der Heidelberger Universität deponiert. Für die kulturelle Zensurwut der Nationalsozialisten war der Zugriff auf diese Sammlung dann ein gefundenes Fressen.

 

So fand 1937 in München die Feme-Schau „Entartete Kunst“ mit einigen Beispielen aus Prinzhorns Sammlung in Gegenüberstellung mit „klassischer Kunst“ und mit dem Vergleich zeitgenössischer, freier, also unzensierter Kunst statt, um die derzeit etablierte Strömung des Expressionismus letztendlich zu diffamieren.

 

Der weitere Weg um die Verdienste der Sammelleidenschaft Hans Prinzhorns nach dem zweiten Weltkrieg ebnete sich 1973 mit der Katalogisierung des zusammengetragenen Materials. Originale wurden dann erst 1980 der Öffentlichkeit präsentiert.

 

Das heutige Museum Sammlung Prinzhorn wurde dann, mehr zu wissenschaftlichen Zwecken, 2001 in der Universitätsklinik Heidelberg eingerichtet.

 

2009 fand im Marburger Kunstverein die Ausstellung „Wahnsinn! Arbeiten aus der Lebenshilfe und der Sammlung Prinzhorn aus Heidelberg“ statt. Wohlgemerkt, vertreten waren geistig behinderte Künstler. Von der „Deutschsprachigen Gesellschaft für Kunst und Psychopathologie des Ausdrucks“ wird seit 1965 die Hans-Prinzhorn-Medaille für betroffene Kulturschaffende verliehen – bei weitem keine „Geisteskranken“.

 

In seiner Geburtsstadt Hemer erinnert das Geburtshaus von Hans Prinzhorn noch an ihn, die städtische Realschule und die dortige Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie erinnern mit der Namensgebung an das Wirken Hans Prinzhorns in dieser Stadt. Der Literaturwissenschaftler Yukio Kotani machte Prinzhorns Arbeit in Japan bekannt.

 

 

ΠΡΟΣ ΕΑΥΤΟΝ

Lern im Leben die Kunst, im Kunstwerk das Leben,

Siehst du das eine recht, siehst du das andere auch.

(Friedrich Hölderlin, in Gedichte 1796 – 1799)

 

 

Art Brut/Outsider Art – Kunst oder Nichtkunst?

 

Die Bezeichnung „Art Brut“ kommt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie „rohe Kunst“. Unter dieser Rubrik werden Werke von Laien (auch Kindern), psychisch Kranken und Geistesgestörten subsumiert. Ins Leben gerufen und bekannt gemacht hat dies v.a. der Maler Jean Dubuffet (1901 – 1985) mit der Beschäftigung, Analyse und der Interpretation dieser nichtakademischen Kunst. Im anglo-amerikanischen Raum lautet die Bezeichnung treffend „Outsider Art“.

 

Dubuffet sammelte zwar Werke (Collection de l’art brut), die als Art Brut kategorisiert wurden und werden, lehnte sich in seinen Werken den Formmerkmalen derartiger Werke an, seine Kunst ist aber nicht als Art Brut anzusehen. (Intellektuelles Reflexionsvermögen.) Dieser Stilbegriff tritt in Konkurrenz mit den abgespaltenen, marginalisierten Kunstformen („Richtungen“) „Bildnerei der Geisteskranken“ (Hans Prinzhorn), „zustandsgebundene Kunst“ und „naive Kunst“.

 

Die Bezeichnung „Art Brut“ hat sich heutzutage weitgehend durchgesetzt, auch wenn es immer wieder Streitigkeiten über die Einordnung bestimmter abweichenden Richtungen oder des geistesfähigen Zustandes des Autors solcher Bildwerke gab und gibt.

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Der Psychiater Walter Morgenthaler veröffentlichte 1921 ein Buch (Ein Geisteskranker als Künstler) über den schizophrenen Patienten Adolf Wölfli – für den Psychiater war dieser Patient ein ernstzunehmender und -genommener Künstler und Morgenthaler hat ihm volle Anerkennung zugesprochen.

 

Mit einem Kreis von Gleichgesinnten (u.a. André Breton) gründete 1947 Dubuffet in Paris die Compagnie de l’Art brut. In der Pariser Galerie von René Drouin wurden Werke der Vertreter der als Art Brut bezeichneten Bilder präsentiert. (U. a. auch Bilder des geisteskranken Wölfli.) Und 1949 schon wurden 200 Bilder unter dem Motto „L’art brut préferé aux arts culturels“ in derselben Galerie präsentiert.

 

1951 löste Dubuffet den Verein auf, die Sammlung wurde bis 1969 in den USA (East Hampton) von dem Künstler Alfonso Ossorio betreut. (1962 kehrte die Sammlung schließlich wieder nach Paris zurück.) 1975 schenkte Dubuffet die Sammlung der Stadt Lausanne – sie war derzeit bereits auf ca. 15.000 Objekte angewachsen. Seit 1976 ist die Sammlung in einem öffentlichen Museum, Collection de l’art brut, untergebracht.

 

Zu den Vertretern der Art Brut zählen im Wesentlichen:

Horst Ademeit (1937–2010)

Aloïse (1886–1964)

Ataa Oko (um 1919 – 2012)

Baya (1931–1998)

Benjamin Bonjour (1917–2000)

Karl Brendel (1871–1925)

Ferdinand Cheval (1836–1924)

Henry Darger (1892–1973)

Alén Diviš (1900–1956)

Jean Dubuffet (1901–1985)

Loftus Etienne (* 1951)

Willem van Genk (1927–2005)

Paul Salvator Goldengruen (* 1960)

Johann Hauser (1926–1996)

Helma (* 1940)

Ernst Herbeck (1920–1991)

Karl Hans Janke (1909–1988)

Karl Junker (1850–1912)

Adam Dario Keel (* 1924)

Julius Klingebiel (1904–1965)

Nils Koppruch (1965–2012)

Hans Krüsi (1920–1995)

Alexander Pawlowitsch Lobanow (1924–2003)

Angus McPhee (1914–1997)

Markus Meurer (* 1959)

Barbus Müller

Heinrich Anton Müller (1869?–1930)

August Natterer (1868–1933)

Eugenio Santoro (1920–2006)

Friedrich Schröder Sonnenstern (1892–1982)

Hans Schmitt (1912–1996)

Armand Schulthess (1901–1972)

Gérard Sendrey (* 1928)

Helga Sophia (1922–2008)

Louis Soutter (1871–1942)

Marcel Storr (1911–1976)

Barbara Suckfüll (1857 – nach 1928)

Theo (1918–1998)

Oswald Tschirtner (1920–2007)

August Walla (1936–2001)

Kurt Wanski (1922–2012)

Alois Wey (1894–1985)

Scottie Wilson (1890/91–1972)

Josef Wittlich (1903–1982)

Adolf Wölfli (1864–1930)

Hildegard Wohlgemuth (1933–2003)

Birgit Ziegert (1966–2017)

Carlo Zinelli (1916–1974)

 

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Realität ist der größte Wahnsinn, den man sich denken kann. (Tagebuchnotiz, selbst)

 

Einige Anmerkungen zum „Fall“ Vincent van Gogh:

Mit Nichten wird Vincent van Goghs Werk (Lebenszeit 1853 – 1890) – bekannt sind 864 Bilder – als eine Randerscheinung in der Kunstgeschichte (wie etwa die der Art Brut) angesehen. Vielmehr sieht man mit ihm und in seinen Werken den Beginn der Moderne. Ob nun der Impressionismus oder der Expressionismus (in den Mikrostrukturen das Informel) eingeleitet wurde, bleibt allein Kunstwissenschaftler überlassen.

 

Wenn man den Überlieferungen über die Persönlichkeit van Gogh Glauben schenken darf, wird es offensichtlich, dass dieser Künstler eine von der Norm abweichende (menschliche) Art zeigte. Dies könnte von einer Persönlichkeitsstörung bis zu einer psychischen Störung (- kurze Abschweifung: die meisten Drogenkonsumenten haben psychische Probleme -) oder gar psychischen Erkrankung reichen.

 

Eine Diagnose oder Einschätzung kann nicht durch Überlieferungen, den Schlüssen aus literarischen Arbeiten über ihn, auch nicht vom Hören-Sagen erfolgen. (Gefragt wären nicht nur Augenzeugen, sondern die Einschätzungen von Experten – Nervenärzte, Psychologen – zu seinen Lebzeiten.) Letztendlich sind dies alles Mutmaßungen, die (z.T. von Kunsthistorikern) an ihn herangetragen werden und wurden. Hierzu wären Experten (Psychiater, Psychologen) gefragt und zwar zu Lebzeiten der betreffenden Person und im Live-Interview.

 

Es kursieren die abenteuerlichsten Attribute über den Künstler Vincent van Gogh. Dies reicht von „geistiger Umnachtung“, über „schizophrene Psychose“, „neurotische Störung“, „epileptischen Anfällen“, „Persönlichkeitsstörung“, bis zu grenzwertigen Bereichen zur Psychose (Borderline-Störung) usw. (Jetzt etwas abschweifend: Ich habe sogar schon eine journalistische Einschätzung über Hermann Hesse gelesen, welche Hermann Hesse eine Schizophrenie andichtete.)

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Ohne Zweifel scheint van Gogh zeitweise wie ein besessener kreativ gearbeitet zu haben. (Vincent: „Man kann nur so gut malen wie man sich fühlt.“) Psychisches Leid, seelische Not und ein ungebändigter Schaffensdrang führten zu seinen leidenschaftlichen Bildwerken, zu einer Passion. Er hat bei Leibe nicht beabsichtigt, eine neue Stilrichtung zu erfinden, sondern ist schlichtweg seiner authentischen Art, seine (gestörte?) Welt im Bilde mit individuellem Ausdruck zu bannen, intuitiv gefolgt.

 

(Franz Kafka schrieb aus innerer Notwendigkeit, und nicht etwa weil er bekannt oder gar berühmt werden wollte. – Er trug seinem Freund Max Brod auf, alle seine Aufzeichnungen und Manuskripte nach seinem Ableben zu vernichten. – Max Brod erfüllte ihm nicht diesen Wunsch, Gott sei Dank!)

 

Es kann nicht vom Hören-Sagen eine Person (oder Persönlichkeit) beurteilt werden. Allein das Original, die reale, originäre Erfahrung mit der Person, und zwar live, ist ausschlaggebend für ein Urteil über die betreffende Person. Liest man Artikel, Veröffentlichungen über jemand, ist dies schon die erste Verzerrung, nämlich die der Sicht des Autors der Veröffentlichung.

 

Eine objektive Berichterstattung gibt es im Grunde nicht – wir sind alle Subjekte! Kursieren dann Beurteilungen, was auch Vorurteile bedeuten können, über Personen, die über mehrere Etappen die Runde machen, kommt dies einer „stillen Post“ gleich. (Aus begabten und intelligenten Individuen können „Idioten“ gemacht werden – aber auch umgekehrt.)

 

Es ist ja zu begrüßen, dass man einen so genialen, großen und bedeutenden Künstler wie Vincent van Gogh zu Ehren ein Museum errichtet hat. Andererseits ist doch offensichtlich, dass dieser Mensch am Leben gelitten hat. Zumindest moralisch verwerflich dürfte die Tatsache sein, dass durch merkantile Vermarktungsstrategien aus einer Leidensgeschichte Kapital geschlagen wird.

 

Nicht nur im kunstwissenschaftlichen Sinne sind Publikationen (Bücher) über ihn sehr wichtig und für den künstlerischen Nachwuchs wie für Beflissene und aber auch für Laien informativ, aufklärend und somit sehr hilfreich. Aber, dass man darüber hinaus versucht, eine Marktlücke zu füllen, etwa durch den Vertrieb von Postern, Postkarten und anderen „Devotionalien“ („van-Gogh-Kult“), ihn für Marketingzwecke missbraucht, ist ein Indiz für ein rigoroses gewinnorientiertes, (kapitalistisches), marktbeherrschendes und letztlich dekadentes Denken und Verhalten. (Andererseits steht dem Gegenüber die Kostendeckung für den laufenden Betrieb des Museums abseits von staatlicher oder sonstiger Unterstützung.)

 

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Gibt es so etwas wie psychotische Kunst?

 

Wenn man sich etwa die Werke der Prinzhorn-Sammlung ansieht, bekommt man schon den Eindruck von einer „Andersartigkeit“ von Individuen, ohne dass man die Persönlichkeit oder die Krankheitsgeschichte der oder des Betroffenen kennt.

 

Formal-ästhetisch wird eine Ruppigkeit, Grobheit und starke Vereinfachung der Form, nicht ein Abstraktionsvermögen – ein Differenzierungsvermögen der Formen, Details, fehlen fast immer gänzlich – bemerkt, und man bekommt im Allgemeinen ein ungutes ästhetisches Gefühl. Vorwiegend herrschen nichtrelationale Kompositionen vor. Oft sind Proportionen nicht harmonisch, Gliedmaßen von realistischen Abbildungen verzerrt und/oder grob vereinfachend dargestellt. (Die Bildnisse dieser Erwachsenen wirken oft wie Kinderzeichnungen.)

 

Die Art der Abbildung, Wiedergabe und Interpretation des menschlichen Körpers kann (muss aber nicht) das Reflexionsvermögen des Autors offenbaren. (Bei gegenstandsbezogener Kunst – „Realismus“, „Naturalismus“, „Fotorealismus“ … – ist für die virtuose Bewältigung für das Ergebnis das visuelle (und somit intellektuelle) Differenzierungsvermögen von entscheidender Bedeutung. Bei psychischen Beeinträchtigungen oder Störungen kann dies beeinträchtigt sein.) Bei psychischen Störungen oder gar Erkrankungen wie einer Psychose, können die Proportionen des menschlichen Körpers (in der Aktdarstellung) nicht richtig widergegeben werden. Die Gliedmaßen scheinen seltsam verzerrt zu sein. Aber: dies kann auch im Zustand voller geistiger Potenz geschehen, also mit Absicht – so können und konnten neue Stile entstehen.

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Das vorher gesagte soll nur als Indiz gelten. Ein gesunder, aber noch ungeübter Kreativer mag vielleicht auch ähnliche Bilder schaffen wie Vertreter der Art Brut. Deshalb ist es auch immer wichtig bei der Beurteilung auf das Alter (und auf die Vorbildung) des Autors zu achten. Es liegt ja auf der Hand, dass man eine Kinderzeichnung in den verschiedensten Phasen der Kindheit anders bewerten und beurteilen muss, als die eines Erwachsenen.

 

Aber: selbst virtuos anmutende Bildwerke (Kunstwerke) sagen noch lange nichts über den seelischen und geistigen Zustand seines Erschaffers aus. Man kann realistische, naturalistische, fotorealistische Darstellungen sehen, die aber im Zuge einer psychotischen Erkrankung (natürlich nicht einer schweren) entstanden sind. Und umgekehrt, dilettantische, ungelenke, grobe und unproportionierte Darstellungen können von hochintelligenten, geistig fitten Menschen geschaffen worden sein.

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Was die Symbolik, Symbolisierung in Bildwerken betrifft, kann ein duales (nicht dubioses) Faktum festgestellt werden. Einerseits kann eine gewisse Symbolik (in gegenständlichen wie in abstrakten Bildwerken) bewusst, also im Einsatz geistiger Potenz geschehen oder nicht bewusst – es herrscht mehr eine Gefühlsebene vor, die Interpretation seitens des Rezipienten erfolgt mehr oder weniger durch (genauer: aus) Zufall. (Hier spielen dann – wieder – Mechanismen des Paranoischen eine Rolle: Zufall oder Kalkül?)

 

Wir sehen also, allein über die Ikonografie kommen wir auf die Lösung dieses Rätsels nicht weiter. Versuchen wir einmal der Sache über die pragmatische Ebene, also der handwerklichen Akkuratesse, näher zu kommen.

 

Es ist kein Indiz, wenn Kreative (Künstler) in „armen“ Materialien wie Papier, Karton, Pappe, Holz, Schnur, Kordel, Draht, minderwertigen Applikationen usw. oder gar mit und aus Abfällen – Müll – in den Bildwerken arbeiten. (Zum Beispiel verwendete im Dadaismus Kurt Schwitters in den unzähligen Collagen Straßenbahn- oder Zugbilletts. Dieter Roth hat den biologisch-chemischen Prozess des Zerfalls von biologischen Stoffen – Lebensmitteln – in seine Kunstauffassung integriert.)

 

(Die Kunstgeschichte, gerade in der Beschleunigung hin über die Moderne hin zur Gegenwartskunst, zeigt dies deutlich. Gerade heute, im Zeitalter der Digitalisierung können einfache, primitive Grundstoffe und Materialien zum Bildaufbau ein Pendant sein. – Abgesehen von einer reinen Protesthaltung oder als Geste der Mahnung an die zweifelhafte Entwicklung des Menschen, der modernen Industrie- und Wegwerfgesellschaft.)

 

In der klassischen Kunst waren edle Materialien wie Marmor, Edelmetalle, die Leinwand obligatorisch. (Der älteste uns überlieferte Bildgrund dürfte die Felswand sein, Papyrus und dann Pergament und später Papier, abgelöst und parallel von Tafeln aus Holz, und dann ab dem Mittelalter, ausgehend von Holland, abgelöst durch die auf Keilrahmen gespannte Leinwand. Heute dürfte die künstlerische Gestaltung in den digitalen Medien und mittels dieser angesagt sein.)

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Es ist zwar ein Merkmal der Art Brut, dass arme Materialien, und nicht edle Werkstoffe, Verwendung finden (Warum?), aber noch kein Indiz dafür, dass etwa zeitgenössische Kunst mit derartigen Materialien – sogar Müll – der Art Brut zugerechnet werden können. Es spielt immer das intellektuelle Umfeld, der intellektuelle Hintergrund, der geistige Horizont des Künstlers eine Rolle. (Der Zweck kann die Mittel heiligen.)

 

Kommen wir wieder zur Pragmatik zurück. Es sind schon (bedingte) Rückschlüsse von der handwerklichen Akkuratesse eines Bildwerkes auf die Gewissenhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Schaffenden zu ziehen und somit zu einer schlüssigen Realitätsprüfung. (Eine Ausstellung zu bestreiten heißt auch Verantwortung zeigen und zu übernehmen.)

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Bei psychischen Störungen, gar Erkrankungen oder in Grenzsituationen wird der handwerklichen Bewältigung beim Bildermachen nicht die volle Aufmerksamkeit gewidmet. (Realitätsprüfung) Wenn ich aus eigener Erfahrung berichten darf: In Zeichnungen finden sich dann etwa fettige Fingerabdrücke, Eselsohren, zeigen sich nicht hingehörende Kaffee- und Fettflecken und sonstige Verunreinigungen, die eigentlich hier nicht hingehören, Holz als Bildgrund wird nur mangelhaft präpariert, Ausfranzungen vom Sägeschnitt bleiben unbehandelt, Unebenheiten und Grobheiten des natürlich gewachsenen Holzes bleiben unberücksichtigt usw.

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Andererseits besitzt jedes Bildwerk (und Kunstwerk) so etwas wie Authentizität und Originalität. (Ich denke jetzt an die Holzskulpturen von Georg Baselitz.)  Es sollen ja nicht wie aus dem Ei gepellte Designobjekte, sondern Kunstobjekte sein, die die Identität (und auch die Befindlichkeit) des Autors offenbaren und andeuten sollen. (Wenn ich jetzt an die Kunstobjekte von Hans Arp im Dadaismus denke, sind dies akkurat und penibel gefertigte Kunstwerke, Reliefs, die an Design erinnern.)

 

(Design ist zweckgebunden. Ein Stuhl muss als solcher verwendet werden können, er besitzt spezifische Eigenschaften, die durch ästhetische Attribute verfeinert werden. Ein Stuhl hingegen, der in der Luft schwebt, Nägel in der Sitzfläche aufweist, und als „Stuhl“ betitelt wird, ist ein Kunstwerk.)

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Fazit:

Es gibt im Grunde keine (erkenntnistheoretische) Möglichkeit durch Rückschlüsse über Bildwerke auf den geistigen und psychischen Zustand des Autors zu schließen. Um dies zu verifizieren oder zu falsifizieren (geistig/psychisch krank oder gesund) muss eine Exploration der betreffenden Person – und zwar live im Interview – geschehen.

 

Letztendlich bleibt eine Beurteilung Experten (Psychiatern, Psychologen) vorbehalten. Aber: Kunst beschäftigt sich mit (äußeren) Erscheinungen, nicht mit menschlichen (psychischen) Abweichungen von der Norm. Was zählt ist die künstlerische Leistung, das Werk, und nicht die Unzulänglichkeiten oder (psychischen) Abnormitäten der Person. Für psychisch Kranke werden Kliniken errichtet, für Künstler Museen gebaut. (Der Modellbau handelt die Wirklichkeit im Kleinen ab.)

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Literatur (Quellen):

Bleuler, Eugen, Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Auflage, Springer Verlag Berlin, Heidelberg, (1943 -) 1983.

Der neue große Shell-Atlas 87/88.

Klinke Rainer und Rothenburger Astried, Lehrbuch der Physiologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 1994.

Schneider, Kurt, Klinische Psychopathologie, 13. unveränderte Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York,1987.

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"Das Glück wohnt nicht im Besitze und
nicht im Golde, das Glücksgefühl ist
in der Seele zuhause."
 
(Demokrit, 460 - 370 v.Chr.)